Michael Broger kreiert am Ottenberg bei Weinfelden seit bald zwei Jahrzehnten Weine, die zu den allerbesten und sicher den eigenständigsten in der Schweiz gehören. Sein Spitzen-Pinot „alte Rebe“ des Jahrgangs 2016 ist nun in der ersten Trinkreife und begeistert enorm!
Den Lesern meines Blogs, die von Anfang an dabei waren, ist Michael Broger natürlich schon ein Begriff (für alle anderen: siehe Links am Schluss des Beitrages). Und unbekannt ist er in der Schweizer Weinszene ja ohnehin nicht mehr. Aber irgendwie scheint er mit seiner bescheidenen, nie marktschreierischen Art doch nicht ganz das Renommée zu erreichen, das er aufgrund der Qualität seiner Weine verdient hätte.
Der Ottenberg zwischen Ottoberg und Weinfelden, hoch über dem Thurtal. Ein hervorragendes Terroir. Bloss der Fotograf war etwas ungeschickt, denn der Hof von Michael Broger versteckt sich ausgerechnet hinter dem grossen Baum in der Bildmitte. Aber vielleicht ist das fast ein wenig sinnbildlich für Broger: Lieber im Stillen Hervorragendes schaffen als sich gross in den Vordergrund stellen.
Eigentlich hatte ich jetzt gar keinen Blogeintrag über Broger geplant, es gab ja schon diverse Beiträge über ihn. Aber dann habe ich gestern die zweite Flasche seines Pinots „Alte Rebe“ aus dem Jahr 2016 geöffnet. Schon vor rund einem Jahr zeigte er sich sehr schön, aber noch zu jung. Jetzt hat er seine erste Trinkreife erreicht – und ich bin so begeistert, dass ich gar nicht anders kann als darüber berichten. Seit einigen Jahren lese ich bei Schreiber-Kollegen und -kolleginnen immer mal wieder von „vibrierenden“ Weinen. Ich habe das nie richtig verstanden, aber dieser Broger-Wein gibt vielleicht einen kleinen Eindruck davon, was damit gemeint sein kann: Ein Wein, der nicht einfach stromlinienförmig über den Gaumen rollt aber – mag er noch so gut und meinetwegen 20 bzw. 100 Punkte wert sein – den Trinkenden letztlich nicht „herausfordert“. Nicht so bei Broger, ganz allgemein, aber sehr pointiert bei der „alten Rebe“ 2016 im aktuellen Stadium: Dieser hervorragende Wein wandelt sich im Mund, wirkt im Antrunk ganz anders als im Abgang, scheint sich ständig einer Metamorphose zu unterziehen, fordert Achtsamkeit und will keinesfalls einfach so beiläufig getrunken werden. Kurz: Ein lebendiger, extrem vielschichtiger Wein, über den man den ganzen Abend philosophieren kann. Oder soll ich jetzt einfach schreiben „ein vibrierender Wein“? Vielleicht ist es wirklich ein Paradebeispiel dafür!
Michael Broger, „alte Rebe“ 2016, Pinot noir Mittleres Rubin; feine, vielschichtige Frucht (Brombeer, Johannisbeer, Zwetschge), leichter Anflug von Teer, Waldboden und etwas Grüntee; im Mund vorab unglaublich „saftig“ und „lebendig“, extreme Frische, passende, eher „weich“ wirkende Säure, viele, aber sehr feine Tannine, enorm fruchtig. Im Abgang zuerst ein kleines Loch von 1-2 Sekunden, dann aber plötzlich ein fein-feuriger, fruchtiger und fast nicht endend wollender Abgang. Ein Wurf von einem Wein, zum Ausflippen schön! 18,5 Punkte.
Wer Neues wagt, muss manchmal auch Rückschläge in Kauf nehmen. In einem Beitrag zu PetNat’s schrieb ich schon mal, dass es offenbar Fälle gab, in denen die Flaschen explodierten. Dass das nicht einfach angelesenes „Winzerlatein“ war, bestätigt Michael Broger mit seiner Erfahrung und seiner offenen Kommunikation.
Ein heisser Tag im Frühsommer 2018. High noon: Plötzlich tönt es auf dem Hof von Michael Broger, als würde geschossen. Und wenig später rinnt rote Flüssigkeit über den Hofplatz. Ein Bild wie aus einem Western! Aber es ist nicht Blut, nur einige PetNat’s hatten zuviel Druck und waren explodiert (ab 10 bar bersten die Flaschen).
Dabei hatte alles so gut angefangen: Broger’s Partnerin stammt aus dem Beaujolais, und auf einer Reise in dieses Gebiet lernte Michael die in Teilen Frankreich’s schon lange bekannten PetNat’s kennen. Interessiert wie er ist, wollte er mehr erfahren und das dann auch daheim probieren. Das Prinzip ist eigentlich einfach, vgl. hier https://victorswein.blog/2020/05/13/pet-nat-zuruck-in-die-zukunft-mit-marco-casanova/) aber es kommt auf den richtigen Moment des Abfüllens in Flaschen an. Zu spät fehlt es an Perlage, zu früh und mit Hitze kombiniert … siehe oben.
Der Erstling 2016 von Broger war aber ein voller Erfolg, qualitativ und auch verkaufsmässig. Aber dann kam eben das Hitzejahr 2018 und der Druck in den frisch gefüllten 17er-Flaschen wurde zu hoch. Nun, Broger stürtzte sich in sichere Kleidung und schützte sich mit einem Forsthelm, drang in den Lagerraum ein und sicherte die Flaschen mit Schrumpffolie. Danach wurden diese „Pakete“ mit dem Hubstapler in den Kühraum transportiert, wonach die intakten Flaschen geöffnet und der Inhalt gerettet werden konnten. Ein Western mit Happy-End.
Auch der Nachfolgejahrgang war nicht vom Glück begleitet, der PetNat genügte Brogers eigenen qualitativen Ansprüchen nicht, weshalb er nicht unter seinem Namen auf dem Markt kam. Ein Gastronom sah das aber ganz anders, fand den Wein sehr interessant und verkaufte ihn ohne Hinweis auf den Produzenten offenbar bestens. Damit dürften sich nun alle „PetNat-Lästerer“ bestätigt sehen, offenbar trinken die Leute alles, wenn es nur „In“ ist …
Broger wäre aber nicht Broger, wenn er sich von zwei Rückschlägen hätte entmutigen lassen! Als er mir die obigen Geschichten erzählte, war der Jahrgang 2019 längst auf der Flasche und auch längst ausverkauft. Aber ich hatte das Privileg, eine Flasche aus seinem „Archiv“ probieren zu dürfen. Und nun, alle „PetNat-Lästerer“ aufgepasst: Der Wein schmeckt herrlich, da war ein Könner am Werk – und einer, der aus den Vorjahren gelernt hat!
Es stimmt alles, was auf der Etikette steht: einfach frisch, prickelnd, naturbelassen, lebendig, frech und unbeschwert! Ein PetNat zum Umdenken.
Nun, natürlich ist auch dieser PetNat kein grosser Wein. Eben, Broger schreibt es gar auf die Etikette, er ist „einfach“. Aber halt einfach frisch, prickelnd usw. … – siehe Etikette.
Im Gegensatz zu vielen anderen PetNat’s, auch jenen von Casanova, wirkt Brogers 2019er kühl genossen überhaupt nicht hefig, sondern sehr fruchtbetont, äusserst „weinig“ und einfach süffig. Es spricht für Michael, dass er selbst mich „anwies“, den Wein stehen und warm werden zu lassen. Also stellte ich das Glas an die Sonne, und vor lauter spannender Gespräche mit ihm und seiner Partnerin vergass ich es fast. Mit wohl gegen 30 Grad zeigte sich dann der PetNat durchaus in einem anderen Bild: Sehr hefebetont, erdige bis leicht muffige Töne – aber trotzdem noch immer sauber und spannend – und mit Genuss trinkbar – abgesehen von der Temperatur natürlich.
Ich bleibe dabei, PetNat’s sind, wenn sie mit so viel Können gemacht werden wie der 2019er von Broger, eine spassige, spannende und erfrischende Alternative – und einem mittelmässigen Prosecco ziehe ich den Broger PetNat 2019 jederzeit vor.
Keine Angst vor dem Öffnen! Immer wieder liest man, dass PetNat’s beim Öffnen zwangsläufig überschäumen. Ich selbst habe dieses Vorurteil in meinem verlinkten Blogbeitrag weiterverbreitet, weil ich offenbar viel zu ängstlich ans Entfernen des Kronkorkens gegangen bin. Michael Broger machte es mir vor: Einfach mutig, aber sorgfältig den Korken entfernen und abwarten – der Wein überschiesst nicht. Und wenn doch, dann muss man einfach ein Glas griffbereit haben. Es ist fast wie beim Bier!
Chardonnay, Riesling, Blaufränkisch, Gamay. Alle diese und über hundert weitere Sorten gäbe es nicht ohne die Ursorte Gwäss bzw. Heunisch, die auch heute noch einen erstaunlichen Wein hervorbringt.
Würden Sie einen Wein „von geringer Qualität, wässrig und sauer“ trinken wollen? Genau das wird dieser „Ursorte“ nämlich nachgesagt, aber sie hat diese Eigenschaften weder ihren Kindern und Kindeskindern vererbt, noch passt das Urteil auf einen heutigen Wein aus der Sorte, den ich hier beschreibe!
Woher die Heunisch oder Gwäss (was man fast gleich ausspricht wie das französische Gouais [blanc]), wirklich stammt, wird wohl nie erforscht werden können. Als sicher gilt, dass sie aus dem Osten kommt und vor vielen Jahrhunderten nach Mitteleuropa gelangte. Nach einer von mehreren Theorien wurde sie schon unter dem Hunnenkönig Attila nach dem Jahr 400 herum eingeführt.
Mit DNA-Analysen bewiesen ist hingegen, dass die Gwäss sozusagen die Mutter/Grossmutter/Urgrossmutter von mehr als hundert heute gängigen Weinsorten ist. Aus unbekannten Kreuzungen hervorgegangen sind zum Beispiel so weltbekannte Rebsorten wie Blaufränkisch und Riesling, aber auch regionale Spezialitäten wie der Räuschling, während Kreuzungen mit Pinot (vermutlich Pinot noir) zu Chardonnay, Alioté, Gamay und Muscadet geführt haben. Auf jeden Fall scheint die Gewäss/Heunisch die älteste namentlich bekannte Rebsorte der Welt zu sein1!
Alpine Reblandschaft im Oberwallis, wo die Gwäss noch angepflanzt wird (Symbolbild, es zeigt nicht den Rebberg von Chanton).
Die Sorte reift spät und ist deshalb auf Frühlingsfrost kaum anfällig. Dazu bringt sie ohne Eingriffe enorme Erträge. Es ist deshalb verständlich, dass sie einst weit verbreitet war. Aber schon im 18. Jahrhundert wurde sie als minderwertig nicht mehr empfohlen. Das Prädikat „dünn“ wurde der Sorte freilich schon im 12. Jahrhundert durch Hildegard von Bingen „verliehen“. Von ihr soll der Ausspruch stammen: „Der fränkische Wein sei ein starker Wein, der mit Wasser vermischt werden müsse, hingegen sei der hunnische (also der von den Hunnen gebrachte Heunisch/Gwäss) von Natur aus wässrig und müsse nicht verdünnt werden“.2
Den Gegenbeweis zu These der Hildegard von Bingen erbringt ein Betrieb im Oberwallis, Chanton Weine in Visp, der sich schon in dritter Generation um die Pflege alter Rebsorten verdient macht. Schon der Grossvater des heutigen Betriebsinhabers Mario Chanton pflanzte die Lafnetscha wieder an, und der Vater zog mit der Himbertscha und eben der Gwäss in den 1980er-Jahren nach. Bemerkenswert ist dabei, dass die Gwäss damals ohne das Wissen um ihre ampelographische Wichtigkeit wieder angebaut wurde. Die ersten Weine aus dieser Sorte waren längst wieder auf dem Markt, als die Forscher den Nachweis der Verwandtschaft erbringen konnten! Gutes Gespür, könnte man dem wohl sagen!
So völlig falsch sind die erwähnten Eigenschaften der Sorte – dünn und sauer – natürlich nicht. Aber Chanton zeigt mit seinem Gwäss, dass mit strikter Ertragsregulierung auch ein völlig anderer Wein entstehen kann:
Gwäss 2017, Chanton Weine Helles Gelb mit orangen Reflexen; dezente Nase mit floralen Tönen, Anflug von Williams-Birne und -Schnaps, etwas Kiwi; erstaunlich rund, ausgeprägter „Süsskomplex“ (nicht süss!), spürbare, aber gezügelte Säure, mittlerer Abgang mit merkbarem Alkohol.
Wohlverstanden, ein wirklich grosses Gewächs ist auch dieser Gwäss nicht. Aber es ist ein schöner Wein, der Spass macht und der auch kulinarisch sehr breit eingesetzt werden kann (Apéro, zu Fisch, hellem Käse und auch zu nicht sehr scharfen exotischen Gerichten. Und nach drei Tagen habe ich einen kleinen Rest noch zu Spargel genossen – selbst das geht).
Aber zu einem richtig erhabenen Gefühl und fast ein wenig Gänsehaut beim Genuss führt natürlich das Wissen, sozusagen einen Schluck Weingeschichte zu trinken und daran zu denken, was uns ohne die Gwäss/Heunisch – oder meinetwegen den Hunnenkönig, wenn diese Geschichte denn stimmt – an Weingenüssen alles verwehrt geblieben wäre! Wer Riesling, Chardonnay und Blaufränkisch und Co. liebt, müsste eigentlich zumindest einmal einen Gwäss genossen haben!
Was die Cantina Barbengo an Weissweinen zu vernünftigen Preisen auf dem Markt bringt, ist ganz einfach sensationell! Klare Handschrift, total sortentypisch – Freude pur!
Aber ein Weinfreund tut sich ja immer schwer damit, beim Bestellen Zurückhaltung zu üben. Und weil ich die Weissen des Gutes nicht kannte, habe ich je eine Flasche dazubestellt. Eigentlich hatte ich nicht die Absicht, einen Blogbeitrag daraus zu machen, und deshalb habe ich von den ersten beiden geöffneten Flaschen auch keine Degustationsnotiz erstellt. Ich habe sie einfach nur sehr gerne getrunken! Nach dem Genuss aller vier Weine war für mich aber klar, dass das einen Beitrag geben muss – die sind einfach zu gut!
Nicht nur die Etiketten haben eine klare Handschrift. Auch, und vor allem, der Inhalt zeigt, dass die Cantina Barbengo unglaublich gute Weisse herstellt!
Das Tessin war ja nicht gerade als Weisswein-Paradies bekannt. Allerdings haben gerade führende Weingüter schon länger auch versucht, in dieser Hinsicht aufzuholen, und es gibt inzwischen einige sehr bemerkenswerte Gewächse (schon fast ein Klasssiker ist zum Beispiel der Chardonnay „Velabona“ von Zündel, um, etwas unfair, einfach einen Wein dazu zu nennen).
Das Gesamtsortiment der Cantina Barbengo von Anna Barbara von der Crone und Paolo Visini toppt aber nach meiner Meinung nun alles was ich kenne: Ein so ausgewogenes, hochklassiges „Weinpaket“ zu Preisen, die noch bezahlbar sind (zwischen Fr. 21.00 und 24.00) muss man weit suchen.
Was vor allem auffällt ist, dass die Weine zwar mit einer klaren Handschrift der Cantina daherkommen: Es dominiert die Finesse, Opulenz gibt es in keinem der Weine, vielmehr wirken alle, so dicht und kräftig sie teils auch daherkommen, als trinke man reines Quellwasser (und das ist jetzt nur als Kompliment gemeint, die Weine sind keinesfalls dünn wie Wasser, im Gegenteil, aber sie haben alle eine Frische, die unwillkürlich an Wasser direkt ab Bergquelle denken lässt).
Und trotzdem gelingt der Cantina Barbengo sozusagen die „Quadratur des Kreises“. Trotz klarer Handschrift der Winzerin bzw. des Winzers habe ich selten ein Sortiment degustiert, das so sehr die Sorte in ihrer Eigenart leben lässt. Alle vier Weine könnten ohne Weiteres in einer „Sortendegustation“ als sehr typisches Beispiel für ihre jeweilige Rebsorte dienen.
Kerner 2019: Ausgeprägte Fruchtigkeit und Frische, knackige Säure, schöne Struktur. Der Wein wird aufgrund seiner knochentrockenen Art und der spürbaren Säure vermutlich nicht jedermann gefallen; für mich ist es ein Prototyp eines hervorragenden Kerner, vielleicht der beste, den ich je im Glas hatte!
Matto 2019 (Sauvignon blanc) „Matto regiert“, kommt einem da unwillkürlich positiv in den Sinn: Typische grüne Sauvignon-Aromen, ohne den geringsten exotischen Einschlag, klar, direkt, aber auch dicht und kraftvoll: ein Wurf!
Meridio 2018 (Chardonnay) Ein Chardonnay wie aus dem Bilderbuch, irgendwo zwischen Côte d’Or und Chablis, mit enormer Frische, aber auch mit Struktur und Länge! Zu diesem Preis kenne ich keinen besseren Chardonnay! (Ich ganz persönlich würde mir einzig eine um Nuancen zurückhaltendere Toastung des Holzes wünschen, aber vermutlich wirkt das in zwei bis drei Jahren ohnehin ganz anders, und das ist nur mein persönlicher Geschmack, die Toastung ist nicht übertrieben). Eigentlich nur logisch, dass dieser Wein 91 Parker-Punkte erhalten hat!
Viognier 2018 Dass es möglich ist, in der Schweiz einen Viognier dieser Qualität herzustellen, hätte ich nicht geglaubt. Das ist Rhonetal pur, die klassischen Düfte (Aprikosen etc.) in der Nase, die gleiche Dichte bei gleichzeitiger Frische und Säure, und alles abgerundet mit einem sehr zurückhaltenden, genialen Touch an Restsüsse. Diesen Wein würde kein Kenner degustieren, ohne ihn als Rhonewein zu deklarieren. Grosse Klasse!
Die „Bordeaux-Weine“ der Cantina kannte ich seit Langem, und die habe ich immer hoch geschätzt. Die Weissen habe ich eben erst kennengelernt – das könnte so etwas wie eine neue Weinliebe werden!
Schon mein letzter Beitrag handelte von einem Piwi-Wein, und die erfreulich vielen Reaktionen zeigten, wie kontrovers bzw. klar befürwortend oder aber ablehnend solche Weine immer noch beurteilt werden. Wer nun aber das Glück hat, den INK der Cantina Barbengo ins Glas zu bekommen, der muss ganz einfach an die Zukunft der besten Piwis glauben, das ist extrem gut!
Die Cantina Barbengo von Anna Barbara von der Crone und Paolo Visini glänzt seit Jahren durch das Sammeln von Parker-Punkten über der 90er-Grenze und durch den Eingang in die Mémoire des Vins Suisses (mit dem hauptsächlich aus Merlot gekelterten „Balin“). Nun hat die Cantina neu auch einen Piwi-Wein auf dem Markt gebracht, und was für einen: den INK 2018 aus der Sorte 91-26-26. Ein Monument auf dem Weg zum Durchbruch von Piwi-Weinen. Eine Sorte mit 6 Zahlen – wie ein 6-er im Lotto!
Stellt nicht nur andere Piwi in den Schatten: Der neue INK aus dem Tessin!
Ich habe den Wein geöffnet und glaubte aufgrund der Wahrnehmung in der Nase, einen Whisky im Glas zu haben. Gleichzeitig war die dunkle, dichte, fast tintige Farbe gewöhnungsbedüftig. Aber spannend erschien der INK 2018 sofort. Aufgrund der Wahrnehmungen habe ich ihn dekantiert, und tatsächlich stellte sich sehr schnell eine Veränderung ein. Eine Entwicklung freilich, die über Tage anhielt:
Tag 1: Kräftiges, dichtes, fast undurchdringliches Dunkelviolett; direkt nach dem Öffnen rauchig-torfig, erinnert an einen torfbetonten Whisky, etwa einen Lagavulin, nach dem Dekantieren immer noch etwas rauchig, aber auch Duft nach Cassis und Brombeeren; im Mund enorm dicht, viel Tannin (anfangs etwas grob wirkend, mit der Zeit interessanterweise viel sanfter!), angepasste Säure, sehr langer Abgang. Der Wein hat enorme Wucht, fast wie ein „Hammer-Merlot“, zeigt gleichzeitig aber auch eine elegante, feine Seite. Toller, spannender Wein! Tag 2: Vom Whisky zum Wein: Die Torfnoten sind weg, es wird fruchtiger, im Mund will der Wein fast nicht aufhören nachzuwirken. Der Eindruck der Tannine ist noch sanfter geworden. Wenn man am ersten Tag aufgrund der Rauchigkeit auf einen Piwi hätte schliessen können, ist das heute völlig anders; nie würde ich blind auf Piwi tippen (von der Farbe abgesehen). Tag 3: Loire? Ein „Monster-Cabernet Franc“? Es haben sich weitere dunkle Düfte entwickelt, reife, dunkle Kirschen, weiterhin Cassis, leichter Anflug von Peperoni. Im Mund weiterhin dicht, adstringierend, enorm nachhaltig. Tag 4: Auf dem Weg ins Libournais? Cabernet Franc würde man sich immer noch denken, aber nun etwas geläutert, mehr warme Töne, wieder Merlot-Anflüge, und im Mund weiterhin dicht und lange nachhallend. Die Farbe ist enorm, mit einfachem Ausspülen bringt man das Glas nicht farblos, es braucht „mechanische“ Nachhilfe! Und weiterhin: jugendlich frisch wie am ersten Tag! Tag 5: Doch eher Médoc? Nun zeigen sich Düfte von sowohl grünen wie auch sehr reifen roten Peperoni. Daneben weiterhin eine enorme Fruchtigkeit, wie bisher Cassis, dunkle Kirschen, Brombeeren. Und immer noch total jung und frisch im Mund! Tag 6: Ribera del Duero? Gegenüber Tag 5 hat sich diesmal nicht so viel verändert, denn der Anflug eines auf „Fruchtbombe“ gemachten Temparanillo gab es eigentlich schon in den letzten zwei Tagen. Allerdings scheint es heute auch erstmals, dass die Spannkraft etwas nachlässt, jedenfalls hat der Wein nicht mehr dazugewonnen. Tag 7: Kuba? Eigentlich hat sich nicht mehr viel verändert, ausser, dass ein starker Tabakduft wahrnehmbar ist; hat aber gegenüber dem Vortag nicht abgebaut. Tag 8: Immer noch Duft nach dunklen Beeren, Leder und Tabak. Im Mund jetzt allerdings deutlich nachlassend, durchaus noch trinkbar, aber in den ersten Tagen machte er mehr Spass. Tag 9: Fast unverändert – und jetzt ist leider die Flasche leer!
Auf der Suche nach Ergänzungen zum Merlot
Die Cantina Barbengo wurde vor allem durch herausragende Merlots bekannt, aber auch mit Cuvées, die Cabernet Sauvignon und -Franc, Petit Verdot und Arinarnoa (Merlot x Petit Verdot) beinhalten. Sie zählt zur absoluten Spitze der Tessiner Weinszene. Die Cantina experimentiert inzwischen auch mit diversen Piwi-Reben, aber, so Paolo Visini und Anna Barbara von der Crone auf elektronischem Weg augenzwinkernd: „Das dauert alles so lange, bis man Resultate hat“. Deshalb entstand der INK 2018 als erster Versuch mit der Rebsorte 91-26-26 auch mit Trauben von Stöcken, die von Mauro Giudici, einem innovativen Traubenproduzenten und Landwirt in Malvaglia im Bleniotal vor ein paar Jahren angepflanzt wurden. Das Dorf liegt an der Lukmanierpassstrasse nordöstlich von Biasca auf knapp 400 m über Meer, aber bereits inmitten der Alpen.
Eine Nummer für Rebsorten ist immer ein Zeichen dafür, dass sie noch nicht weit verbreitet, sondern im Versuchsstadium sind. Ich hätte jetzt schon einen definitiven Namensvorschlag: Giudici-Barbengo!
Das Interesse der Cantina Barbengo an diesen Trauben wurde auch deshalb geweckt, weil der 91-26-26 (korrekt: Giudici-Barbengo 🙂 ) eine gewisse „Ähnlichkeit“ zu den Bordeaux-Sorten nachgesagt wird. Als grossen Vorteil gegenüber anderen Piwi-Sorten erachten Visini und von der Crone aber auch die Resistenz gegenüber der drosophila suzukii (Kirschessigfliege): Die Beerenhaut ist so robust, dass ein Durchbohren unmöglich scheint.
Wein mit viel Potential – wie viel in Jahren?
Es handelt sich bei diesem Wein, dem 91-26-26, vinifiziert von der Cantina Barbengo, die offenbar auf Anhieb perfekt auch mit einem Piwi umgehen konnte, um einen wirklich hervorragenden Wein, der in einjährigen Barriques ausgebaut wurde. Aufgrund der Degustation würde man ahnen, dass dieser Piwi auch sehr gut altern kann. Die Cantina selbst schreibt dazu: „Eine Prognose zum Alterungspotenzial ist immer etwas heikel, insbesondere ohne Erfahrung; fünf bis acht Jahre vielleicht“? Ich persönlich wäre nicht überrascht, wenn der 91-26-26 auch im Jahr 2038, also mit 20 Jahren, noch Freude machen würde!
Prüfen kann ich persönlich das leider nicht. Ich hatte eine Flasche bestellt und auch kurz nach Eingang der Sendung geöffnet. Als ich nachbestellen wollte um das Alterungspotential verfolgen zu können, war der Wein leider schon ausverkauft. Einen 6er im Lotto darf man aber schliesslich auch nicht alle Tage erwarten!
Ich werde mich weiterhin mit Piwi-Weinen auseinandersetzen, die neueren Erlebnisse lassen mich fest daran glauben, dass solche Sorten den Durchbruch schaffen werden! Dies nicht nur aufgrund ökologischer Aspekte, sondern nun eben auch, weil es hervorragende Weine gibt. Trotzdem werde ich mich in meinem Blog weiterhin und vor allem auch mit aussergewöhnlichen „herkömmlichen“ Weinen befassen. Im nächsten Beitrag mit solchen der Cantina Barbengo. Ich hatte auch vier Weisse bestellt, und die sind allesamt so umwerfend gut, dass sie mehr als nur eine kleine Fussnote hier verdient haben.
Vorurteile leben länger. Das gilt auch für mich selbst. Ich habe mich schon lange immer wieder mit pilzwiderstandfähigen Sorten befasst und wurde dabei meistens enttäuscht. Inzwischen bin ich aber überzeugt, dass die Piwi-Sorten die Zukunft unseres Weinbaus mit bestimmen werden!
Lustigerweise war es vor rund drei Jahrzehnten ebenfalls am Iselisberg, als ich die ersten Piwi-Weine versuchte. Es war damals beim im positiven Sinne „verrückten“ Guido Lenz in Uesslingen, und die Ansätze waren gut, aber qualitativ noch gewöhnungsbedürftig. Nun bringt mich erneut der Iselisberg dazu, endlich wieder tiefer in die Weine aus Piwi-Sorten einzutauchen. Und wieder ist der Name Lenz im Spiel, auch wenn meines Wissens keine Verbindung besteht.
Im vergangenen Jahr las ich in der Kundenzeitschrift von Delinat die Aussage von Roland Lenz, der zusammen mit seiner Frau Karin in Iselisberg, hoch über dem Thurtal bei Frauenfeld einen Biobetrieb leitet: „Bis in zehn Jahren werden wir nur noch Piwi-Sorten anbauen“. Vor vier Monaten traf ich ihn an einer Veranstaltung persönlich, und auf das Zitat angesprochen meinte er: „Das geht nicht einmal mehr zehn Jahre“! Und auf meine ungläubige Nachfrage, ob die Kundschaft denn das mitmache: „Ja, wir sind mit den Piwi’s wirtschaftlich sehr erfolgreich, die Weine kommen an“.
Keine Reb-Einöde: Hotspots für die Biodiversität am Iselisberg
Ich hatte ja schon länger vor, mich wieder intensiver mit Piwi-Weinen zu beschäftigen und habe hier auch schon einen tollen Wein von Marco Casanova beschrieben: https://victorswein.blog/2019/05/19/soyhisticated-sauvignon/ , aber diese Aussage hat mich so richtig elektrisiert und dazu gebracht, mich dem Thema endlich intensiver anzunehmen und (unter anderen) bei Lenz‘ ein paar Flaschen zu bestellen. Die erste, die ich degustierte, hat es gleich in sich:
Der Wein ist aus der Sorte Souvignier gris gekeltert, eine im Jahr 1983 vom staatlichen Weinbauinstitut Freiburg (D) aus Cabernet Sauvignon und Brommer (Merzling x gm 6494 [=Zarya Semera x St. Laurent]) gekreuzte Sorte. Neuere genetische Untersuchungen sollen nun aber freilich zum Schluss gekommen sein, dass es sich in Tat und Wahrheit um eine Kreuzung von Seyval blanc und Zähringer handle (leztere eine ältere Kreuzung Traminer x Riesling). Quelle: https://sibbus.com/de/sortenbeschreibungen/weissweinsorten/souvignier-gris.html. Aber dem Geniesser kann das egal sein, denn der Wein schmeckt ganz toll. Und dem Naturfreund ohnehin, denn der Sorte wird eine hohe Resitenz gegen alle gängigen Pilzkrankheiten nachgesagt, so dass zumindest Lenz‘ im Pflanzenschutz ganz ohne Kupfer und Schwefel auskommen, womit sich auch alle gängigen Vorurteile gegen „Bio“ erübrigen.
Lenz „Handwerk weiss“ – viel mehr als nur Handwerk
Souvignier gris ist bestimmt eine Piwi-Sorte mit grossem Potential. Allerdings braucht es ebenso sicher auch viel önologisches Gefühl, um daraus einen wirklich grossen Wein zu keltern. Der Sorte wird beispielsweise nachgesagt, dass sie über wenig Fruchtaromen verfüge. Piwi-Profis wie die Lenz‘ sind dem so begegnet, dass sie den Wein 36 Stunden an der Maische stehen liessen, dann erst abpressten und ihn mit den eigenen Wildhefen in einer Barrique vergären und anschliessend 9 Wochen im Holz auf der Hefe lagern liessen. Auf diese Weise ist ein ausdrucksvoller und dichter Wein entstanden, so dass niemand mehr die Frucht vermisst – obwohl man ihn meiner Meinung nach dank seiner Frische sogar als Apérowein einsetzen könnte. Der Wein heisst „Handwerk weiss“, und das beherrschen die Lenz‘ augenscheinlich – aber wohl viel mehr als das, das ist schon fast Weinkunst, und der Wein könnte auch so genannt werden!
Helles Strohgelb; dezenter Duft nach weissen Johannisbeeren und etwas Aprikosen, leichter Holzton und Rauchnoten; im Mund enorm dicht mit gut stützender Säure, auffällige Frische, ganz leicht spürbare Restsüsse, die aber so gut eingebunden ist, dass sie sogar mir gefällt, langer Abgang. Absolut toller Klassewein, der zwar „zum Abbeissen“ dicht ist, aber trotzdem frisch und süffig bleibt!
Und das Schönste daran: Man spürt diesem Wein in keiner Art und Weise an, dass es sich um eine Piwi-Sorte handelt! Dieses sonst so oft in weissen Piwi’s gespürte „rauchig-speckige Stachelbeeren-Kiwi-Aroma“ fehlt hier völlig (ich kann diese für mich für Piwi’s typische Aromatik beim besten Willen nicht besser beschreiben). Ich jedenfalls wäre nie darauf gekommen, dass der „Handwerk weiss“ ein Piwi-Wein ist – einzig beim Raten, um welche herkömmliche Sorte es sich denn hier handelt, wäre ich wohl etwas überfordert gewesen.
Das Weingut mit dem Ozean dazwischen
Der Teil des Weinguts auf dieser Seite des Ozeans: Lenz in Iselisberg, TG
Karin und Roland Lenz bewirtschaften in der Schweiz rund 21 Hektaren Reben biologisch. Davon sind aber 3,5 Hektar nicht bestockt, sondern als Biodiversitätsflächen ausgespart. Bereits 1996 stellte der Betrieb auf „Bio“ um, kam dann aber aufgrund von Missernten nochmals davon ab, bloss, um 2006 endgültig auf biologischen Anbau umzustellen! Seit 2010 sind Lenz‘ auch zertifiziert.
Bereits zweimal wurden Lenz‘ von Vinum zum „Bioweingut des Jahres“ erkoren. Es gibt aber auch noch eine „Filiale“ in Chile, wo weitere 18 Hektaren zum Betrieb gehören. Damit wird das sorten- und geschmackmässige Gesamtsortiment noch spannender. Ich selbst wohne quasi in Fussdistanz zum Schweizer Standort und verfolge die Veränderungen in der Bewirtschaftung seit Jahren mit Hochachtung und Freude (gerade auch, weil ein anderer grosser Betrieb am Iselisberg – wie ein Spaziergang von heute zeigte – weiterhin unbekümmert seine Rebzeilen mit Glyphosat totspritzt, während die Reben von Lenz, wenn überhaupt, mechanisch gepflügt werden!). Wie erwähnt, sind bei Lenz‘ zudem bereits rund 12 Prozent der Landflächen mit „biologischen Hotspots“ belegt, was die Biodiversität massiv steigert.
Hier noch ein Beispiel für Freiflächen für die Biodiversität; inkl. Insektenhotel.
Viele der Weine des Gutes haben mir schon seit Jahren immer wieder sehr gut gefallen. Da Lenz indessen vor allem bei den meisten Weissen einen Stil mit spürbarer Restsüsse pflegt, war das Gut bisher aber nicht zuoberst auf meiner Prioriätenliste, wenn es um Besuche und Einkäufe ging. Das hat sich seit der Unterhaltung mit Roland Lenz und vor allem mit der Degustation des „Handwerk weiss 2018“ schlagartig geändert. Es lagern noch fünf weitere Flaschen – trockenen – Weins in meinem Keller – affaire à suivre! https://www.weingut-lenz.ch/
In einem zwar diletanttisch gemachten Youetube-„Film“, der aber dank der Aussagen von Roland Lenz trotzdem sehenswert ist, attestiert der Winzer der Rebsorte „Souvignier gris“ fast nur Gutes – und vor allem ein grosses Potential. Angesichts des degustierten Weines kann man sich dem uneingeschränkt anschliessen! https://youtu.be/ob2GIQxmnpk
Und weil ich im Text ein anderes Gut als Lenz negativ erwähnt habe, weil weiterhin Unkrautvertilger einsetzt, hier noch ein Link auf einen Beitrag, den ich vor Jahresfrist zu diesem Thema veröffentlicht habe. Ich verstehe solche Winzer beim besten Willen nicht mehr! https://victorswein.blog/2019/05/04/glyphosat-fur-winzer-auch-ein-imagerisiko/
Etwas Weinpolitik zum Jahresende – oder eher Realsatire? Schweizer Winzer haben teilweise Mühe, ihre Produkte abzusetzen. Aber wie löst man das Problem? Mit Qualität oder mit belangloser Mengenproduktion? Eine Polemik einer Winzertochter bringt mich zu diesem Beitrag.
Kürzlich schrieb die Tochter eines ziemlich bekannten Winzers einen Artikel, der grob zusammengefasst, folgende Aussagen enthält: „Die Schweizer Weine erreichen auf dem Markt nur noch 35 % Anteil, was eine irrwitzige Konsequenz unserer Weinbaupolitik ist. 35 % Marktanteil – und nun soll eine vom Bund unterstützte Werbekampagne Besserung bringen. Wie paradox, kämpft doch der Staat seit Jahren genau dafür, dass es weniger, dafür teureren Schweizer Wein gibt. Das Werkzeug, dessen sich der Staat bedient, sind Mengenbeschränkungen von 1,4 kg/m2 für weisse, und 1,2 kg/m2 für rote Sorten. Eine Mengenbeschränkung, die ein Stück weit funktioniert, aber ab einem gewissen Punkt nichts mehr bringt, es sei denn, man will Holz produzieren. Und trotz der eigentlich erlaubten Menge ernten die Winzer nur rund 0,8 Kg, was den Preis nochmals in die Höhe treibt. Der Staat will also weniger Schweizer Wein auf dem Markt, derdafür um so teurer ist, lässt gute Trauben an den Stöcken verfaulen und importiert ausländischen Wein. 2018 zwang man die Winzer, ihre Trauben verfaulen zu lassen – und nicht einmal Traubensaft durfte man damit herstellen. Heutzutage wirft der Staat das edle Gut Trauben weg wie Abfall“.
Trauben hängen lassen, was die Pflanze nur hergibt? Der richtige Weg für den Schweizer Weinbau?
Die Schlussfolgerung: Der Staat soll gefälligst statt eine Werbekampagne für Schweizer Wein (profitieren würden nur die Welschen) zu finanzieren die Mengenbeschränkung aufheben, dann könnten die Schweizer Winzer billigen Wein produzieren und der Marktanteil würde sich von selbst regeln.
Liberales Wein-Experiment?
Wenn man einmal davon absieht, dass hier offenbar jemand seinen, warum auch immer vorhandenen Frust über „den Staat“ abzulassen scheint (teils auch etwas Fakten vermischend – es ist ja z.B. nicht der Staat, sondern es sind die Traubenabnehmer, die nur 0,8 Kg Trauben wollen, und der Staat importiert auch keinen Wein, sondern lässt solches lediglich zu!) hat der Gedanke aus liberaler Sicht ja etwas für sich: Warum überlassen wir den Weinbau nicht einfach völlig dem freien Markt? Mögen die Durchschnittswinzer doch 3 oder noch mehr Kg Trauben pro m2 hängen lassen, um dann einen billigeren Wein anbieten zu können! Das Experiment wäre vielleicht spannend – und die wirklichen Spitzenwinzer der Schweiz hätten auch nichts zu befürchten.
Bloss: Das hatten wir leider schon einmal! Etwas ältere Semester erinnern sich an die schlechte, alte Weinzeit in der Schweiz vor dem Rebbaubeschluss von 1993, mit dem Mengenbeschränkungen eingeführt wurden. Zuvor waren teilweise Erträge von drei bis vier Kilo Trauben pro m2 keine Seltenheit, angemessen wäre beim ertragreichen Chasselas rund ein Kilo. Bei der unglaublich grossen Ernte von 1982 mussten gar Schwimmbäder mit Wein gefüllt werden, weil im Keller kein Platz mehr war. (Quelle: Philipp Schwander, MW, Link siehe am Schluss).
Als Weintrinker hatte man beim Weisswein die Wahl zwischen wässrigem Chasselas aus der Westschweiz oder erdig-muffig-dünnem Riesling x Sylvaner (heute Müller Thurgau) aus der Deutschschweiz. Und beim Roten zwischen nichtssagendem Gamay oder Dole und saurem, hellem und dünnem Blauburgunder. Und das Image der Schweizer Weine war unterirdisch! Gut, beim Rotwein gab es schon damals Importe, aber Weisswein zu importieren war aufgrund des „Heimatschutzes für Schweizer Weisswein“ schwierig – und wer ein entsprechendes Kontingent hatte, verdiente sich eine goldene Nase daran. Als Weinfreund war man schon fast froh, wenn wie 1983 oder 1985 ein Grossteil der Ernte dem Frost zum Opfer fiel und – endlich – (einigermassen) trinkbarer österreichischer Grüner Veltliner als Ersatz importiert wurde – welche Wohltat! Auch deshalb bin ich heute nicht so unglücklich, auch aus 65 % ausländischem Wein aussuchen zu können …
Nach und nach setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Schweizer Wein nur dann eine Chance haben würde, wenn er auf die Karte Qualität setzt – und dass dabei die Menge Trauben pro Quadratmeter eine entscheidende Rolle spielt.
Die Schweiz als Mengenproduzentin?
Die Fachwelt war und ist sich seither ziemlich einig: Erst eine – gar nicht so rigorose – Mengenbeschränkung hat dazu geführt, dass Schweizer Weine wieder einigermassen konkurrenzfähig sind. Und erst enorme Qualitätsanstrengungen haben ermöglicht, dass die Schweiz, vielleicht erstmals überhaupt, auch Weine produziert, die Weltspitze sind und die damit endlich das Image des Schweizer Weins langsam aber sicher in die richtige Richtung entwickeln. Ob es da hilfreich wäre, wenn der Markt erneut mit Massenwein von jämmerlicher Qualität überschwemmt würde? Dies um so mehr, als schon die heutigen Mengenbeschränkungen ziemlich hoch liegen. 1,4 bzw. 1,2 kg/m2 Ertrag liegen massiv über der Limite, die beispielsweise für den einfachsten Wein aus den sonnenverwöhnten Côtes du Rhône gilt (0.9 kg/m2). Offenbar ist der französische Staat noch viel böser …
Betriebswirtschaftlich unhaltbar Kann angesichts der Produktionspreise hierzulade überhaupt ein Schweizer Produkt über den Preis mithalten? Es ist ja speziell: Die Winzertochter möchte offenbar so viel Ertrag hängen lassen, dass eine Flasche Schweizer Wein zum Discounter-Kampfpreis von Fr. 3.00 verkauft werden könnte. Ich erspare Ihnen hier eine komplizierte Rechnung, nur soviel: Gemäss einer Untersuchung der Agridea (Link siehe unten) liegen die Selbstkosten eines Winzers in der Schweiz für eine Flasche Wein bei Fr. 9.00 bis 10.50; dies bei einem Traubenpreis von Fr. 4.00 pro Kg. Selbst dann, wenn dieser Preis mit einem Ertrag von angenommenen 4 Kg/m2 auf Fr. 1.00 gesenkt werden könnte, lägen die Selbstkosten also noch bei rund Fr. 6.00 bis 7.00!
Die ganze Schweizer Industrie und auch der Dienstleistungssektor mussten feststellen, dass sie via Menge und Preis auf dem Weltmarkt keine Chance haben. Das hat, nebst einer einschneidenden und für Firmen und Arbeitnehmende schweren Veränderung, eine Vielzahl von agilen, cleveren Unternehmen hervorgebracht, die mit hoher Qualität und mit Nischenprodukten Erfolg haben. Warum sollte das beim Wein anders sein? Ausgerechnet bei einem Produkt, das nach wie vor sehr viele Arbeitsstunden erfordert, angesichts deren Kosten wir ohnehin nie mit dem Ausland mithalten können!
Swiss Made – Qualität auch beim Wein „In der Schweiz gelten unsere Weine als teuer, aber international sind sie günstig; unser Spitzenwein ist innerhalb von 2 Stunden ausverkauft.“ Diese Aussage stammt von Martin Donatsch, einem – absolut nicht überheblichen – Winzer aus der Bündner Herrschaft. Und Stephan Reinhardt, Weinkoryphäe und Parker-Mitarbeiter aus Deutschland, schreibt gerade heute in der FAZ: „Keine Angst vor Schweizer Weinen, so teuer sind sie gar nicht“! Das deckt sich auch mit vielen Beiträgen in diesem Blog, in denen ich beschrieb, dass hervorragende Schweizer Weine zur absoluten Weltspitze gehören und gefragt sind. Ich bin absolut überzeugt, dass Qualität die einzige Chance für Schweizer Winzer ist, um auch in Zukunft zu bestehen. Wer sein Heil darin sieht, mit Massenware auf den Markt zu drängen, der – man verzeihe mit diesen betriebswirtschaftlichen Tipp – reisst seine Reben besser jetzt schon aus, bevor er noch (weiter) Geld mit dem Weinbau verliert.
Und zum Schluss: warum nicht eine gute Werbekampagne?
Eine vom Bund unterstützte Werbekampagne, wie sie so sehr kritisiert wurde – warum auch nicht? Die Branchenverbände haben es jedenfalls in drei Jahrzehnten nicht geschafft, etwas kommunikativ Vernünftiges zu schaffen. Da haben private Weinfreude wie Andreas Keller und Susi Scholl mit ihrer Swiss Wine Connection innert einem Jahrzehnt weit mehr erreicht!
Das Problem liegt meines Erachtens nicht darin, dass wir zu teuren Wein haben, vielmehr ist leider weiterhin beim Durschnittskonsumenten auch heute noch nicht angekommen, dass Schweizer Wein inzwischen in fast allen Preisklassen richtig gut ist – der Mengenbeschränkung sei Dank 🙂
Schon wieder Jürg Marugg! Dabei hatte ich ja eben erst über ihn geschrieben. Kürzlich wurde mir aber auf Schloss Wartenstein in Pfäfers überhalb Bad Ragaz der „Momentum“ empfohlen. Das war ein sehr passender Tipp und ein Grund für einen neuen Beitrag.
Jürg Marugg ist einer der bemerkenswersten Newcomer in der Bündner Herrschaft. Er hat für mich gerade das Momentum auf seiner Seite. Und eigentlich nicht nur das, die Zukunft gehört ihm sicher auch! Beschrieben habe ich das schon hier: https://victorswein.blog/2019/07/27/weinbau-marugg-hoch-4-in-flasch-und-jurg-als-speziell-interessant/ Danke des Tipps im Restaurant kommt hier nun eine Forsetzung: Momentum – eine Assemblage aus Syrah und Merlot, empfohlen zu einem Wildteller.
Wunderschöne Reblandschaft: Blick auf Fläsch in der Bündner Herrschaft, dem Wohnort von Jürg Marugg (Foto von Schloss Wartenstein aus, von der anderen, der St. Galler, Rheinseite)
Ich war eher skeptisch, aber weil ich gerne Neues entdecke und mich auch je länger, je lieber auf Weinempfehlungen des Servicepersonals verlasse, habe ich also eine Flasche „Momentum 2016“ bestellt.
Natürlich kann man sich fragen, ob es Syrah und Merlot nördlich der Alpen wirklich braucht. Und man kann auch zu irgendwelchen Assemblagen ein Fragezeichen setzen, und ganz besonders zur Mischung von Syrah und Merlot. Aber das Resultat in Form des Momentums ist überzeugend!
Mittleres, glänzendes Purpur; dunkle und helle Beeren (Brombeere, Johannisbeere), Thymian; im Mund druckvoll, gut stützende Säure bei spürbaren Tanninen, enorme Frische, eleganter, langer Abgang mit einem dezenten Nachhall nach neuem Holz. Schöner, eigenständiger Wein!
Das Lustige daran: Ich hätte blind darauf getippt, dass in diesem Wein auch Pinot noir enthalten ist. Aber vielleicht hat das ja nur damit zu tun, dass der Momentum eben seine Herkunft nicht versteckt. Zwar kann man – jedenfalls, wenn man es weiss … – durchaus Syrah und Merlot herausspüren, und die Komplexität des Weines deutet auch eher auf eine südlichere Herkunft, aber diese enorme Frische, das ist dann eben schon wieder „Norden“! Der Wein lagert 18 Monate in Holzfässern, davon sind 2/3 neu. Aber dieser Holzeinsatz ist nur erstaunlich dezent spürbar; Merlot und Syrah kommen zusammen offenbar sehr gut mit dem Neuholz zurecht bzw. werden daduch gar geadelt!
Es bleibt dabei: Schweizer Weine sind, zumindest an der Spitze, hervorragend, und man kann inzwischen tatsächlich jede Speise mit einem absolut geeigneten Schweizer Wein begleiten. Das hat der „Momentum“ wunderbar bewiesen, selbst wenn ein Pinot aus der Herrschaft sicher auch passend gewesen wäre! Aufgrund des Momentums hätte es ja gut einer von Jürg Marugg sein können!
Ich habe in den letzten Monaten mehrmals über grossartige Schweizer Weine geschrieben, die Weltklasse darstellen. Ganz sicher dazu gehört der Médinette von Bovard, ein Inbegriff für einen wunderschönen Chasselas, der selbst Weingott Bacchus prosten lässt!
Als Leserin oder Leser mögen Sie nun fragen, ob mir denn nichts anderes mehr einfalle, als über bekannte Weinklassiker zu schreiben. Gegenfrage: Wann hatten Sie zum letzten Mal einen Médinette im Glas? Bei vielen dürfte das lange her sein – und das ist schade, der Wein ist nämlich nicht einfach ein Klassiker, sondern ein genialer Klassiker, der zum Besten zählt, was es in der Schweiz gibt!
Klassisch ist auch die Etikette, die aus dem Jahr 1905 stammt und den Weingott Bacchus zeigt. Der Text links unten hatte prohetischen Charakter: le plus fin des Vins Suisse!
Bovard, das Traditionsunternehmen aus Cully, führt eine Vielzahl von Chasselasweinen aus unterschiedlichen Lagen. Aber bei aller Tradition hat sich Bovard auch immer wieder an Neues gewagt. Ortsuntypische Sorten wie Chénin blanc, Sauvignon blanc, Syrah und Merlot oder ein Ausbau von Weinen in der Barrique wurden sozusagen zu neuen Traditionen. Wer den heute schon über 80-jährigen Louis-Philippe Bovard erlebt, wer seine einnehmende Präsenz und seine Freude daran, über die Weine zu philosophieren je erlebt hat, wird keine Angst mehr vor dem Alter haben – und kann sich vorstellen, welche Schaffenskraft Bovard wohl als 50-jähriger gehabt haben muss!
Trotz aller Innovation – die Chasselas-Weine bleiben die Klassiker des Betriebes. Sehr spannend ist, dass jeder Wein seine Eigenheit, seine Herkunft ausspielen darf. Ich habe kürzlich die 2017er Villette Fraidieu, Espesses Chatally, St. Saphorin l’Église und den „normalen“ Dézaley nebeneinander probiert. Die Weine sind völlig verschieden – statt ihnen eine Firmenhandschrift aufzustempeln, lässt Bovard sie sich selbst ausdrücken. So toll diese Weine sind – das Mass aller Dinge ist der Dézaley Médinette: Helles Gelb; zurückhaltende, aber delikate Noten von Mirabellen und Zitrusfrüchten, florale Düfte nach Linden- und Rebenblüte (!); im Mund im ersten Moment wuchtig wirkend, dann aber immer mehr mit einer tänzerischen Leichtigkeit, enorm mineralisch und frisch, mit einer schönen Säure und einem fast nicht enden wollenden Abgang. Eleganter Wein mit noch schlummerndem Power!
Speziell bemerkenswert ist die ausgeprägte Mineralität. Ich habe noch nirgends eine wirklich überzeugende und eingängliche Beschreibung von Mineralität im Wein gelesen, dieses „Phantom“ muss man selbst erspüren, was hier besonders gut gelingt.
Weine aus Chasselas sind generell unterschätzt, sind aber oft (und immer öfter) hervorragend. Der Médinette 2017 ist gar ein absoluter Spitzenwein, der auf seine ganz eigene Art mit den besten der Welt mithält. Dieser Wein ist jetzt schon ein unglaublicher Genuss – wie muss er erst in ein paar Jahren sein? Denn der Médinette gilt als Inbegriff eines Chasselas, der mit zunehmendem Alter immer noch besser wird und der auch sehr lange haltbar ist. Auf der Hompage von Bovard kann man denn auch heute noch die Jahrgänge 2006 und 2008 kaufen – auf Anfrage gibt es vielleicht gar noch eine Flasche aus den Jahren 2000 – 2004.
Sie sehen: Auch oder gerade ein Klassiker kann hochaktuell sein – und zum Wiederentdecken!
In einer Woche: Schweizer Spitzenwinzer im Schiffbau! Und ganz zum Schluss: Am Montag, 2. Dezember 2019 bietet sich die landesweit beste Gelegenheit, Schweizer Spitzenweine zu probieren. Am „Swiss Wine Tasting“ ist, nebst vielen anderen, auch Bovard vertreten. Infos und Anmeldung (Eintritt nur Fr. 20.–). https://www.swiss-wine-tasting.ch/?L=0
Es hat nichts mit Chauvinismus zu tun: Viele Schweizer Weine sind Weltspitze. Und viele weitere sind zumindest sehr gut. Am Montag, 2. Dezember 2019 kann man sich davon selbst überzeugen!
Ob man noch ganz objektiv über Schweizer Wein schreiben kann, wenn man soeben die Hälfte einer Flasche Pinot noir 2009 von Gantenbein genossen hat? Von einem schlicht genialen Wein, der erst am Anfang seiner besten Trinkreife steht und der mit seiner Eleganz (auch im heissen Jahr 2009!), seiner Dichte, seiner noch immer enormen Fruchtigkeit, seiner Frische und seinem Feuer praktisch alle gleichpreisigen Burgunder in den Schatten stellt?
Ja, man kann! Denn, dass die Schweizer Winzer seit vielen Jahren, teils leider immer noch unbemerkt vom „Mainstream“, hervorragende Weine herstellen, wird ja nicht von ein bisschen Gantenbein vernebelt!
Da muss man einfach hin: Swiss wine at its best! 2.12.2019, ab 11.00 Uhr
Also, nichts wie los am Montag, 2. Dezember 2019 in den Schiffbau. Es lohnt sich! Tickets zu bescheidenen Fr. 20.00 gibt es schon im Vorverkauf hier: http://www.swiss-wine-tasting.ch/ticketing/?L=0