100 Jahre – und kein bisschen müde

Vermutlich der Schweizer Wein schlechthin: 100 Jahre „Aigle les Murailles“.

Gerade noch rechtzeitig publiziert: 2018 feiert der „Schweizer Nationalwein“ seinen 100-jährigen Geburtstag

Eigentlich bin ich sicher: Es gibt keinen bekannteren Schweizer Wein als den „Aigle des Murailles“. Und der Wein, ein Chasselas, ist ein Phänomen – marketingmässig war er es schon in einer Zeit, als der Ausdruck hierzulande noch gar nicht bekannt war, und qualitativ haben es die Produzenten immer wieder geschafft, den Wein an der Spitze und am Puls der Zeit zu halten. Es ist zu hoffen, dass sie das auch im zweiten Jahrhundert weiterhin tun und sich auch nicht verzetteln.

1908 wurde die Firma Badoux Vins in Aigle gegründet, und 10 Jahre später – eben vor 100 Jahren – kam erstmals der Wein mit dem Namen „Clos les Murailles“ auf den Markt. Dieser Clos ist eine terrassierte, steile Südlage in Aigle. Schon der zweite Jahrgang, 1919, trug dann das von einem ortsansässigen Künstler geschaffene „Eidechsly“ auf der Etikette, und das ist bis heute so geblieben. Der Legende nach soll der Maler im Rebberg auf eine Eidechse gestossen sein, und so soll die Idee mit dieser Etikette entstanden sein. Aus dem Rebberg sind diese Tiere leider verschwunden, aber das soll sich wieder ändern:
https://www.coopzeitung.ch/themen/essen-trinken/wein/2018/wanted-gruenes-reptil-im-rebberg-99062/

Geändert hat mit der Zeit allerdings der Name des Weines, aus dem „Clos les Murailles“ wurde der „Aigle les Murailles“. Diese Anpassung dürfte dem Erfolg des Weines geschuldet, und damit juristisch zwingend gewesen sein, denn der eigentliche Clos ergibt nur rund 30’000 Flaschen pro Jahr – der heutige Absatz liegt aber bei rund einer Million Flaschen; die Trauben kommen also längst nicht mehr zur Hauptsache aus dem Clos! Quelle:
http://www.leregional.ch/N117217/100-ans-et-des-millions-de-bouteilles.html

Aber genau diese Anpassung machte es möglich, dass der „Eidechslywein“, so nannten ihn Generationen von Schweizerinnen und Schweizern, so erfolgreich wurde. Es gibt wohl keinen Weintrinker in einem gewissen Alter, der nicht die eine oder andere Anekdote erzählen könnte, welche mit diesem Wein verbunden ist. Ich selbst denke immer wieder daran, wie wir während des Militärdienstes in Genf jeweils im Ausgang im „St. Pauli“ gleich hinter dem Hauptbahnhof „Eidechslywy“ tranken und versuchten, mit Deutschweizer Mädchen anzubandeln (ich war da freilich erfolgloser als im Weintrinken…).

Perfekt muss auch über all die Jahre das Marketing gewesen sein – bis heute: Wie anders wäre zu erklären, dass der „Aigle les Murailles“ den Spagat schafft, sowohl in renommierten Weinhandlungen als auch im Supermarkt präsent zu sein. Und wie, dass die Marke offenbar keinen Schaden daran nimmt, dass der Wein immer wieder zu Aktionspreisen zu haben ist. Und ganz am Rand gelang es den Verkaufsstrategen von Badoux auch, den Eidechsliwy exportieren zu können – auch da könnten andere lernen. Umgekehrt hat die Firma erst in jüngerer Zeit begonnen, die Marke als Basis für andere Weine zu nutzen, erst seit wenigen Jahren gibt es auch einen Rotwein, einen Rosé und neuerdings gar einen Schaumwein namens „les Murailles“. Ob das gut geht, wird die Zukunft zeigen – angesichts des immer „guten Händchens“ im vergangenen Jahrhundert würde es niemanden wundern.

Der „Aigle les Murailles“ hat auch in qualitativer Hinsicht immer wieder gut abgeschnitten, so war er mit dem Jahrgang 2013 in einer Vinum-Probe mit 16.5 Punkten nur einen halben Punkt hinter dem Siegerwein (ein Calamin von Louis Bovard; vgl. später) ganz weit vorne platziert.
http://www.chandrakurt.com/fileadmin/user_upload/News/VINUM_1506_Chasselas.pdf
Ganz offensichtlich müssen sich, wenn gut gearbeitet wird, Quantität und Qualität nicht zwingend widersprechen!

Allerdings hätte dieser Beitrag auch ganz anders ausfallen können. Ich hatte ihn scnon im Sommer aufgrund des runden Geburtstages des Weines geplant und vorbereitet. Ich hatte den Wein auch in jüngerer Zeit immer gut und reell empfunden, war freilich beim 2015er etwas enttäuscht, da der Wein sehr breit und caramel-süsslich daher kam. Ich hatte das dem speziellen Jahrgang zugeschrieben, war dann aber wirklich vor den Kopf gestossen, dass der 2017er wieder ähnlich war – fast oxidiert erschien er mir. Ich hatte damals einen preislich ähnlich gelagerten Wein von Louis Bovard, einer wirklichen Referenz in der Westschweiz (siehe oben), als Vergleich gekauft, einen Epesses Chatally, und die Degustation war für den Aigle geradezu ernüchternd. Und in meinem Kopf hiess die Überschrift dieses Beitrages schon “ 100 Jahre und ziemlich müde“.

Weil ich nur selten über Enttäuschungen berichte und lieber über tolle Weinerlebnisse schreibe,
Ausnahme siehe hier: https://victorswein.blog/2018/02/03/wein-oder-sugus/
liess ich es sein, einen Beitrag zum Millenium zu schreiben, und darüber bin ich heute sehr froh. Denn offensichtlich handelte es sich im Sommer um eine schlechte Flasche. Weil das Thema aber weiter, und nur noch kurz, aktuell war, habe ich vorgestern nochmals zwei Flaschen gekauft – und welch‘ Unterschied: Der Aigle „Les Murailles“ 2017 war überhaupt nicht caramellastig oder mit oxydativen Anflügen versehen, sondern frisch und süffig:

„helles Gelb, glänzend; intensiv in der Nase, Bergamotte, Lindenblüte, Kamille; im Mund erfrischend und süffig, eher tiefe Säure, schlank, mittlerer Abgang. Alles in allem ein schöner, typischer und süffiger Chasselas“.

Auch dieses Mal schwang der „Epesses Chatally“ von Bovard für mich persönlich zwar knapp obenauf („verhaltene Nase, Quitten, Veilchen; sehr mineralisch, gute Säure, schlank, recht langer Abgang), aber mit Punkten bewertet wären beide wohl nahe beisammen.

So endet also auch meine ganz persönliche Geschichte im hundersten Jahr „Aigle les Murailles“ positiv. Es wäre auch zu schade gewesen, wenn ein Flaggschiff des Schweizer Weins plötzlich Schlagseite erhalten hätte! So aber freuen wir uns auf die nächsten 100 Jahre „Eidechsly“ – vielleicht gar wieder mich echten Tieren im ursprünglichen Clos!

https://www.badoux-vins.ch/de/
http://www.domainebovard.com/de/home.php